CITYGRID | 2011 | Ausstellungsansicht Stadtmühle Willisau, Schweiz
Schwarze Linien, weiße Flächen, weiße Linien, schwarze Flächen: Das Grundvokabular der Zeichnungen, die Caroline Bayer aufs Blatt, auf die Wand und in den Raum setzt, ist ausgesprochen minimalistisch. Was die Künstlerin den Betrachtern zu sehen gibt, lässt sich auf die einfache Grundopposition von anwesend und abwesend, von ja und nein, eins und null zurückführen. Nicht von ungefähr stellt sich beim Anblick der rechtwinkligen Anordnungen von Linien und Flächen in Schwarz und Weiß der Gedanke an einen Code, eine verschlüsselte Botschaft ein: So sahen einst Lochkarten aus, auf die Alternative von null und eins baut jeder Programmschritt des Computers auf, aus der Verdichtung rechtwinkliger schwarz-weißer Zeichen-Elemente setzen sich die Muster von Bar Codes und ihren Nachfolgern, den Quick Response Codes zusammen. Auch die 64 Zeichen des I Ging, des als Orakel genutzten chinesischen Buchs der Wandlungen bestehen aus nichts als den Variationen von zwei Mal drei Linien. Zu sehen sind Kolonnen von Feldern, Raster aus Linien, die sich in der Waagrechten und in der Senkrechten aufeinander beziehen. Im regelmäßigen Muster ist ein Rhythmus zu erkennen aus Unregelmäßigkeiten, Intervalle von betonten und unbetonten Elementen.
Eine Raumgliederung zeigt sich, das Abbild einer Abfolge in der Zeit. Sichtbar wird ein Muster, das sich in Bezug setzt zu den Betrachtern. Es fordert dazu auf, sich zum Gesehenen zu verhalten, bietet Orientierung an und Relation.
Caroline Bayer, die 1973 in Stolberg im Rheinland geborene Künstlerin aus Berlin, zu Gast im Atelier der Albert Köchlin Stiftung AKS in der Stadtmühle Willisau, setzt sich mit dem Raum auseinander. In ihren Architekturzeichnungen reduziert sie die Formen bis zur reinen Struktur, die Gesetzmäßigkeit ausdrückt, nach Regeln sucht und – nach der Grundopposition von anwesend und abwesend – das regellos Individualistische aufscheinen lässt: das Bild der einzelnen Betrachter selbst, die sich zu den Normierungen und Rasterungen ihrer Wohnstätten und Lebensräume verhalten.
Caroline Bayer ist eine Künstlerin, die findet, was ihr den Stoff für ihre Arbeit gibt. Sie erfindet nichts, sie nimmt auf, was ihr die Lebenswelt, ihre Umgebung vorgibt. Für die Arbeiten, die in Willisau entstanden sind, fand sie ihr Formenmaterial in La Chaux-de-Fonds, der im blühenden Aufschwung in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Reissbrettstadt entworfenen Uhrmacherstadt, die mitten in einem ländlichen Raum auf einer Hochebene liegt. Das Linienmuster der Strassen aus der Vogelschau, die Rasterschemen von Fenstern und Balkonen mit geöffneten, geschlossenen, halb offenen, halb geschlossenen Rollläden und Sonnenstoren übersetzt Caroline Bayer in abstrakte geometrische Zeichnungen.
Was als Ausgangsmaterial für diese Zeichnungen diente, was als Wirklichkeitsausschnitt zu einer künstlichen und künstlerischen Wirklichkeit geformt wurde, ist im Grunde nicht mehr wichtig. Es ist wie in der Landschaftsmalerei: das Motiv kann wiedererkennbar sein, einer bestimmten Gegend zuzuordnen – es geht aber um den Typus, um ein Bild des Zusammenklangs oder kontrastreichen Gegenspiels von Hügel, Ebene, See, Berg und Himmel: was immer im Blick des Landschaftsmalers liegt. Das will nun nicht heißen, die Zeichnungen von Caroline Bayer seien Landschaftsmalereien oder auch nur die schematische Darstellung von Landschaften. Es sind Strukturbilder. Über ihre ästhetischen Werte hinaus – die Proportionen und Rhythmen, die dem Musikalischen angenäherte Gliederung des Raumes und im Vorübergleiten des Blicks auch der Zeit –, über das geordnete Maß und die Schönheit der eingelösten Regel hinaus sind diese durch ihre minimalistischen Mittel absoluten Zeichnungen Träger von Bedeutung. Sie erinnern nicht nur an Codes und verschlüsselte Botschaften, sie sind es. Das machen sie schon für den oberflächlichen Blick deutlich durch ihre Nähe zu Schrift und Schriftzeichen. Vollends enthüllt sich der Zeichencharakter dieser Strukturbilder, wenn ihre abstrakte Ordnung in Bezug gesetzt wird zur eigenen Gegenwart der Betrachter, zu ihrem Leben und Lebensraum, wenn dem Verhältnis nachgefragt wird von Regel und Regelbruch, von Individuum und Masse. Dazu ist es unnötig zu wissen, wo die Künstlerin ihr Formenmaterial fand. Es genügt der Blick auf die Zeichen – im Raum und an der Wand –, um diesem Code auf die Spur zu kommen. Die Künstlerin Caroline Bayer erzählt, wie sie während ihrer Studienjahre in Münster darauf kam, sich mit Architekturformen und dem Raum, den sie prägen und okkupieren, auseinanderzusetzen. Es war der tägliche Blick auf die hässlichen, hingeklotzten Bauten aus den 1980er Jahren. Ihre Architekturzeichnungen können vielleicht auch so gesehen werden: Als der Versuch, dem unangenehm Aufdringlichen doch noch ein Maß an Schönheit abzugewinnen. Weit mehr aber ist aus den Strukturzeichnungen, die eine reale Lebensgegenwart in ihrer gebauten Raumgestaltung vermessen und befragen, eine Sensibilität dafür zu gewinnen, wie der Raum, den sich der Mensch gestaltet, nicht nur ein Abbild gibt von der Auffassung, die er von sich und seinesgleichen hat, sondern wie er mitformt an seinem Befinden, seinen Gefühlen und Gedanken. Der Mensch lebt immer in Bezug zu seinem Raum. Das ist die Grundbotschaft, welche die Zeichnungen von Caroline Bayer in ihrer Verschlüsselung verbergen: Raum ist immer Lebensraum. Seine Strukturen formen nicht nur das äußere Bild einer Landschaft, einer Stadt, es sei nun La Chaux-de-Fonds, Berlin oder Willisau. Sie formen das Bild im Innern, sie formen den, der darin lebt. Darauf macht die Künstlerin Caroline Bayer aufmerksam, wenn sie hingeht und die Strukturen eines Orts aus der Sicht auf seinen Grundplan, aus dem Blick auf die Fassaden seiner Häuser herauslöst und in ihren Zeichnungen als abstrakte Zeichen isoliert und verdeutlicht.
Natürlich steckt hinter den Arbeiten von Caroline Bayer keine missionarische Absicht. Sie will niemanden bekehren noch überzeugen. Zuallererst sind ihre Zeichnungen sinnliche Angebote, die dazu einladen, unmittelbar wahrgenommen zu werden. Ein Rätsel kann auch dann schön sein, wenn es ungelöst bleibt. Wer es löst, hat nur mehr davon, und wer sich von der Kunst zum Nachdenken über sich und seine Lebensumgebung anregen lässt, geht mit wacheren Sinnen und Gedanken durch sein Leben und durch die Welt.
Text: Urs Bugmann
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